Martin Sieberer & Simon Messner am 24.03.2022

Ende März glückte Martin Sieberer und mir eine überaus logische aber sehr alpine Erstbegehung im rechten Wandbereich der Schrammacher Nordwand im Tiroler Valsertal.

Vier Versuche, aufgeteilt auf fünf Jahre, hatte es dazu bedurft. Einen ersten Versuch im Hochwinter 2017 mussten wir aufgeben da die steilen Granitplatten mit Pickel und Steigeisen für uns nicht kletterbar schienen. Im späten Frühling kamen wir dann wieder – diesmal mit Kletterschuhen –, doch die Wand war durch die Schneeschmelze wasserüberronnen und der ständige Steinschlag zwang uns erneut zum Umdrehen. Mit dem Vorhaben, bei kälteren Temperaturen zurückzukehren, deponierten wir Klemmkeile, Schlingen, Karabiner und Hakenmaterial für einen nächsten Versuch. Doch als wir im Folgejahr erneut durch das Valsertal zur Wand aufstiegen, war das deponierte Material verschwunden – da Klemmkeile nicht laufen können gehe ich davon aus, dass das Material (leider!) gestohlen wurde…

Jedenfalls endete auch dieser Versuch in der 3. Seillänge da wir uns mit nur vier Felshaken, drei Keilen und kaum Schlingenmaterial nicht weiter klettern trauten. Das Risiko, wegen Materialmangels nicht mehr abseilen zu können, war uns zu groß. Also drehten wir um, schon wieder…

Ende März 2022 hatte es über einen ganzen Monat kaum nennenswerte Niederschläge in Tirol und im Alpenraum gegeben – man spricht vom trockensten März seit Aufzeichnungsbeginn. Für Landwirte, die polare Gletscherschmelze und unser Klima eine Katastrophe(!), für Martin und mich ein Segen. Die Wand sah trocken aus und die kühlen Temperaturen im März waren ideal, denn sie hielten die unzähligen losen und teils autogroßen Granitblöcke in der Wand gefroren (jedenfalls redeten wir uns das ein).

Unsere Strategie sah wie folgt aus: Ski für den Zustieg, Leichtsteigeisen und Eisgeräte für den Aufstieg zur Wand, Kletterschuhe für den unteren Teil und ein Paar Bergschuhe, Steigeisen und Eisgeräte für den Notfall im Rucksack. Eine Daunenjacke für den Sicherer und 800 ml Flüssigkeit sowie zwei Riegel pro Kopf.

Um halb vier Uhr morgens des 24. März 2022 holte Martin mich in Innsbruck ab. Eine knappe Stunde später stiegen wir bereits mit Tourenskiern und im Kegellicht unserer Stirnlampen auf in Richtung Schrammacher und Sagwand. Dort, am Wandfuß angekommen, deponierten wir unsere Skier und wechselten auf Bergschuhe, Steigeisen und Pickel. Abwechselnd spurend stiegen wir nun über jene breite Schneerampe auf, welche uns direkt unter das markante, steil in den Himmel aufragende Riss- und Verschneidungssystem führte. Was für eine Linie!

Da ich das Gelände besser kannte als Martin, stieg ich ein. In der zweiten Seillänge kam ich erneut zu der Stelle, bei der man über eine Schuppe klettern muss (VII). Eine unangenehme Stelle, da die hohle Schuppe nicht nur zum Klettern dient, sondern auch zur Absicherung mittels kleinem Camalot. Ich hatte bereits Stand bezogen und beobachtete Martin im Nachstieg. Gerade hatte er den Camalot aus dem Riss entfernt, wollte höher Steigen und… in diesem Moment brach die gesamte Schuppe aus! Was für ein Glück, dass Martin und unser schwerer Rucksack von oben gesichert waren. Wäre mir die große Schuppe im Vorstieg ausgebrochen, dann wäre es wohl nicht so glimpflich ausgegangen…

Der Schrecken steckte uns noch in den Knochen, denn uns war bewusst, dass die nächsten Seillängen wohl genauso brüchig sein,- aber das Gelände noch steiler würde. Wir mussten überaus vorsichtig sein!

Die nächste Seillänge stellte die Schlüsselseillänge dar: nach einer plattigen Sequenz muss man über die Andeutung eines seichten Risses über ein bauchartiges Dach klettern (VIII-). Die letzte (und kaum vertrauenserweckende!) Sicherung liegt dabei in weiter Entfernung. Martin riskierte es und… konnte diese schwere Einzelstelle klettern ohne zu stürzen! Wow… die Zeichen standen gut für uns.

Immer dem markanten Riss- und Verschneidungssystem weiter folgend kamen wir nun zügig voran. Uns kam entgegen, dass wir weitgehend in Kletterschuhen und der Vorsteiger mit bloßen Händen klettern konnte. Zwar spürten wir der Kälte wegen unsere Finger und Zehen nicht mehr, aber das Klettern fühlte sich trotzdem bedeutend sicherer an als mit Pickel und Steigeisen, welche jeweils der Nachsteiger im Rucksack mit sich trug.

Nach der 7. Seillänge begann die Wand deutlich abzuflachen und – kaum zu glauben – wir kamen in die Nachmittagssonne. Somit hatte das Zittern an den Standplätzen vorerst ein Ende, was für eine Genugtuung!

Über Granitplatten und Blockgelände stiegen wir nun in gerader Linienführung weiter. Um kurze Firnaufschwünge zu überklettern, benutzten wir unseren Felshammer als Art Notfall-Pickel. Großteils aber konnten wir im Fels klettern. Gegen 16.00 Uhr standen wir schließlich am Grat zwischen Schrammacher und Sagzahn. Wir hatten es geschafft, endlich! Ganze fünf Jahre nach meinem ersten Versuch und nur einige Tage bevor ich Innsbruck verlassen- und zusammen mit meiner Freundin nach Südtirol ziehen würde. Ich kann mir kein schöneres Abschiedsgeschenk vorstellen als eben die Vollendung dieses Langzeitprojektes: ein Traumroute in unmittelbarer Nähe von Innsbruck, was will man mehr!

 

Anmerkungen:

  • Eine Wiederholung dieser Route bedarf den kompletten Allroundalpinisten: Ski für den Zustieg, solides Klettern in hochalpinem Gelände und der Umgang mit Pickel und Steigeisen sollten unbedingt beherrscht werden.
  • Eine gute Strategie ist Voraussetzung um die Route an einem Tag klettern zu können.
  • Alle Seillängen wurden vom Vorsteiger frei geklettert.
  • Nach dem Felsausbruch in der zweiten Seillänge dürfte die Stelle (einst VII) nun schwerer sein (geschätzt 7a-Gelände).

 

Ausgangspunkt: Touristenrast im Valsertal (1.345m)

Zustieg: Von der Touristenrast mit Skiern in 2h 30min durch das Valsertal (ca. 1.000 Hm)

Wandhöhe: 400m Schneerampe + 450m Kletterei

Abstieg: abseilen über die Route (zusätzlich Haken, Keile und Schlingen nötig)

Material: Normale Alpine Ausrüstung, 2x 50 Meter Halbseile, ein Satz Camalots (Gr. 4 optional), einige Haken, Schlingenmaterial, Klemmkeile, Pickel, Steigeisen, Kletterschuhe & Tourenski für den Zustieg.

Schwierigkeit: VIII- (eventuell M8), die Schlüsselstelle muss zwingend frei geklettert werden.