Wiederholung der „Schmid“ am 06.06.15

Franz und Toni Schmid waren 1931 mit dem Fahrrad aus Bayern nach Zermatt gefahren, hatten das 4.478 m hohe Matterhorn über seine Nordwand erstdurchstiegen und mussten schließlich zwei Tage am Gipfel ausharren – besseres Wetter abwartend – bevor sie absteigen konnten. Was für ein Abenteuer das gewesen sein musste! Mit der Durchsteigung der Matterhorn-Nordwand war die erste der drei großen Nordwände der Alpen erklettert worden.

 

Bernhard Bliemsrieder und ich waren mittlerweile aus der Nordwand ausgestiegen und auf den oberen „Zmuttgrat“ gestoßen. Es war Mittagszeit. Was uns beruhigte war, dass die Hauptschwierigkeiten nun einige hundert Höhenmetern unter uns lagen. Der Abstieg aber würde noch anstrengend werden, wir beide spürten die Höhe! Nun plagten uns jedoch ganz andere Sorgen. Wir mussten so schnell wie möglich absteigen, denn wir waren in ein frühsommerliches Hitzegewitter geraten. Unerwartet und viel zu schnell war es aufgezogen! Es hatte zu graupeln begonnen und Wolken waren aufgezogen. Unsere auf den Rucksack geschnallten Eisgeräte fingen laut zu surren an. Ganz so, als wären wir Teil eines großen Insektenschwarms. Auch unser restliches Material war nun elektrisch geladen, sogar die nass gewordenen Dreilagenjacken zischten! Was nun? Es brauchte keine Worte. Wir wussten beide was diese Spannung zu bedeuten hatte und wie gefährlich sie ist!

Auf 02.45 Uhr früh hatten wir unseren Wecker gestellt. Noch in unseren Schlafsäcken hatten wir eine Kleinigkeit gefrühstückt, Schnee geschmolzen und Kaffee getrunken. Dann waren wir aufgebrochen, der Schnee war weich. Teilweise bis zur Hüfte brachen wir ein. Erst später wurde er härter und unsere Hoffnung damit wieder größer. Wir stiegen weiter, obwohl uns der weiche Schnee im Einstiegsfeld sehr viel Kraft gekostet hatte. Als es zu dämmern begann erreichten wir das Einstiegs-Firnfeld. Wir stapften hintereinander. Wenn der Vordere müde wurde, ging der Hintere weiter und umgekehrt. Noch waren wir nicht sicher, ob wir einen Versuch wagen sollten. Die letzten Tage waren warm gewesen und in der Wand schien kaum Schnee zu liegen…

Wir einigten uns darauf, wenigstens bis zum Ende des Firnfeldes zu gehen. Dort wollten wir entscheiden: weitergehen oder umdrehen. Ich wollte es auf alle Fälle versuchen und auch Bernhard – ein unglaublich gut trainierter Schitouren-Rennläufer – wollte weiter.

Wir kletterten im Fels los. Unsere Eisgeräte brauchten wir nun vorerst nicht mehr. Wir hatten unseren Rhythmus gefunden. Zugleich kletterten wir zusehends in der Sonne, oft am laufenden Seil. Ab und an löste sich ein Stein im oberen, brüchigen Wandbereich und flog mit einem flatternden Pfeifen den Berg hinab. Dabei schlug er weitere Steine und Eis los. Auch sie flogen mit zeitlicher Verzögerung Richtung Bergschrund. Der Steinschlag wurde stärker, wir mussten uns beeilen!

Am frühen Nachmittag hechteten wir gebückt und so schnell wir konnten, vom Gipfel hinab. Nicht nur wir sondern die Luft stand unter Hochspannung! Unser Material „summte“ wie verrückt und von einem zum anderen Augenblick bekamen wir abwechselnd Stromschläge. Derjenige, der über dem Anderen stand, spürte die Spannung stärker. Die Frage nach dem „wieso verdammt noch mal machen wir das…?“ hatte sich schon lange in vielen kleinen Spannungen um und an uns entladen. Nun galt es nur noch dieser Situation zu entkommen.

Kurzerhand entschlossen wir unter einem Stein Schutz zu suchen. Wir legten die noch immer surrenden Eisgeräte und das restliche „Kletterzeug“ möglichst weit weg und kauerten einfach nur da. Ich müsste lügen, aber wir waren beide froh kurz verschnaufen zu können. Doch hier konnten wir nicht bleiben. Andauernd helle Blitze und beinahe zeitgleich folgte Donner!

Um etwa 19.00 Uhr erreichten wir die Solvay Hütte. Sie ist kaum mehr als eine Biwakschachtel. Bernhard wollte bleiben, ich weiter absteigen. Ich hatte solchen Durst! Kocher und Gas hatten wir aus Gewichtsgründen bei der Hörnlihütte gelassen, also konnten wir kein Wasser schmelzen. Bernhard ließ sich überreden nach einer Pause weiter abzusteigen. Ob dies die richtige Entscheidung war ist hinterher schwer zu beurteilen. Mich aber lockte das Verlangen nach Wasser und ich drängte hinab.

Es war Nacht geworden. Die Orientierung viel uns zusehends schwerer. Auch weil wir müde waren. Unsere Kleider waren nass und der aufziehende Nebel brachte die Kälte mit sich, wir begannen zu frieren. Einige Stunden später standen wir vor einem Abbruch. Wir hatten uns verstiegen. Also seilten wir uns ab und in die Dunkelheit hinein. Im Dunkeln fehlte uns die Orientierung. Mehrmals seilten wir ab, querten nach links oder stiegen wieder auf. Wo waren wir?

Als wir unser Seil nicht mehr abziehen konnten – es hatte sich verklemmt – ließen wir es einfach hängen. Mir war es mittlerweile egal geworden. Wie eine fette, aufgeblasene, unsichtbare Kraft spürte ich eine Gleichgültigkeit in mir aufkommen, wie ich sie bis dato nicht kannte.

Erst um ein Uhr Nachts erreichten wir die Hörnlihütte. Sogleich schmolzen wir Schnee und tranken das kalte Nass. Es war herrlich! Es hatte erneut zu graupeln begonnen, wir aber vielen in einen tiefen, komatösen Schlaf. Dass es in der Nacht weiter schneite und wir von Neuschnee zugedeckt wurden kümmerte uns wenig.

Was bleibt?

Wie viele Tausend mal wurde das Matterhorn nun schon bestiegen? Ich weiß es nicht. Wenn auch der Nimbus einer Tour mit jeder Besteigung schwindet, bleiben das Erlebte für jede Seilschaft und jeden Protagonist individuell. Es muss keine schwere Tour sein, um starke Erfahrungen zu machen. Oft sind es unscheinbare Momente, Unachtsamkeiten, die einer Tour den weiteren Verlauf diktieren: Bergsteigen als fortlaufender Lernprozess. Solange wir klassische Touren klassisch belassen, bleibt deren Lern,- und Erfahrungspotential für zukünftige Generationen erhalten. Wir müssen also nicht weit weg fahren um etwas zu erleben. Das Spannende liegt auch heute noch vor unserer Haustür!